Die sagenhafte Ahle Wurscht, sagenhaft gut!
Ahle Wurscht war eine Neuentdeckung bei meinem letzten Verwandtenbesuch in Darmstadt - zwar hatte ich davon schon gehört, aber noch nie welche probiert. Die "Alte Wurst" ist eine der Salami ähnliche Dauerwurst aus Nordhessen. Aufgrund ihrer besonderen Herstellung und Geschichte wurde diese Wurst in die "Arche des Geschmacks" von Slowfood aufgenommen - eine hohe Auszeichnung, wenn man bedenkt, daß seit der Einrichtung 1996 weltweit etwa 6000... weiterlesen "Passagiere" aufgenommen wurden.
Die Gegend um Kassel war lange Zeit ein armer Landstrich: raues Klima mit kargen Böden, die so wenig hergaben, daß die meisten Bauernhöfe nur den Eigenbedarf deckten und die Männer sich zusätzlich oft als Saisonarbeiter verdingen mußten. Als Vieh wurden fast ausschließlich Schweine gehalten, auf jedem Hof nur wenige, kostenlos aufgezogen mit Küchenabfällen und dem, was der Wald hergab. Jahrhundertelang, bis in die 1970er Jahre, also bevor Privathaushalte über Gefriergeräte verfügten, mußte das Fleisch aus der Hausschlachtung konserviert werden. In der kalten Jahreszeit bildete die Ahle Wurscht - in Hinblick auf Kalorien und Eiweiß - die Grundlage der dörflichen Ernährung. Daher der Spruch "In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot."
Im Spätherbst zogen die Schlachter über die Dörfer, und jeder brachte seine eigene geheime Gewürzmischung mit, zu der in Schnaps eingelegter Knoblauch gehörte. Das Besondere an der nordhessischen Traditionswurst ist aber, daß das gesamte Fleisch des Schweins dafür verwendet wurde, auch edle Teile. Innereien und Blut wurden separat verarbeitet. Anschließend reifte die Wurst über den Winter heran und wurde zur "alten Wurst", die bis zum Sommer verzehrbar blieb.
Was einst Arme-Leute-Essen war, ist zur raren Delikatesse geworden. Heutzutage sind frisches Gemüse und Fleisch rund ums Jahr vorhanden, da braucht keiner mehr Dauerwurst. Außerdem ist Fettes ohnehin verpönt. Vor allem fehlt es an geeigneten Schweinen, denn Turbomast-Fleisch ist für die langsame Reifung ungeeignet, und turbogereifte Würste sind nun mal nicht "ahl".
Das meiste, was heute als Ahle Wurscht verkauft wird, ist zwar traditionell hergestellt, doch wer diese Wurst aus privater Hausschlachtung kennt, merkt den Unterschied. Ich hatte das große Glück, bei meinen Verwandten eine solche Rarität zu kosten und war hingerissen. Natürlich wollte ich gern etwas Vergleichbares nach Hause mitbringen und fand im südhessischen Darmstadt Börners Wurstlädchen.
Börner verkauft seit fast 80 Jahren Wurstwaren ausgesuchter Hersteller aus dem nahen Odenwald und aus Oberhessen, seit 1956 im selben Laden im Stadtzentrum unweit des Langen Ludwigs. Der Imbiss mit regionalen Speisen ist ebenso beliebt wie die Würste und die Feinkost. Durch das große und appetitlich präsentierte Angebot, die hohe Qualität der Waren und das freundliche Fachpersonal hat das familiengeführte Geschäft eine treue Stammkundschaft.
Wie überall haben auch im wohlhabenden Darmstadt die meisten alteingesessenen Metzger und Feinkostläden aufgegeben, doch Börner blieb durch seinen ausgezeichneten Ruf bestehen. Hoffentlich bleibt das so, denn bei meinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt würde ich dort gern wieder Ahle Wurscht kaufen, selbst wenn es sich um modernisierte Versionen handelt, beispielsweise aus Lamm und Wild. Geschmacklich war sie prima, preislich angemessen, und dem Qualitätsversprechen von Börner vertraue ich.
Vom Genuß einer "Privatwurst" aus Hausschlachtung kann ich nur träumen...[verkleinern]