Seit 2005 gibt es in Berlin diesen einzigartigen Gedenkort, der die Schicksale von Schöneberger Juden im Dritten Reich mit Bildern, Texten und Originaltönen nahe bringt. Zentrum der Ausstellung sind 170 Alben zu ganz unterschiedlichen Personen. Es sind berühmte Wissenschaftler, Künstler und Literaten, es sind wichtige Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, aber auch einfach nur Nachbarn - alte und junge. Mit Fotos, Briefen, eigenen Texten, Biografien und Hintergrundinformationen werden... weiterlesen sie und ihr Lebensumfeld anschaulich und berührend dargestellt.
Die Alben liegen auf Pulten, vor jedem ein Stuhl, eine lange Reihe in der Mitte des Raums, flankiert von Tischgruppen mit weiteren Alben. Die strenge, nüchterne Anordnung wird durch die relative Farblosigkeit des Raums unterstrichen: weiße Wände und Tischplatten, schwarze Stühle und ein dezenter Fußboden. An den Wänden hängen tausende von handgeschriebenen Karteikarten einer jahrelangen Recherche zu im Nationalsozialismus enteigneten und deportierten Schöneberger Juden. Durch das Format wirken die Flächen einheitlich, aber durch das Handschriftliche mit unterschiedlichen Schreibgeräten und Farbtönen tritt die Individualität der Personen hervor. Es ist ein ruhiger, würdevoller Raum, der zur Beschäftigung mit diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte einlädt. Die Gestaltung als Lesesaal mit schönen Tischlampen macht die Ausstellung zu einem Studienort, an dem man sich ausführlich mit den Exponaten beschäftigen kann. Die hohe lichtdurchflutete Halle hat mir etwas von der Bedrückung genommen, die sich unweigerlich angesichts der mannigfachen Leiden einstellt.
Am Ende des Raums befindet sich eine kleine Handbibliothek sowie ergänzende Informationen, elektronisch und mit Original-Dokumenten. Das Personal an der Informationstheke neben dem Eingang ist keine einfache Aufsicht, sondern eine fachkundige Besucherbetreuung. Häufig kommen Nachfahren von vertriebenen oder ermordeten Schöneberger Juden aus aller Welt hierher, die auf der Spurensuche ihrer Vorfahren nach Berlin reisen. Bei meinem Ausstellungsbesuch empfingen die beiden Damen mich freundlich, gaben mir eine kurze Einführung in den Aufbau der Ausstellung und boten mir bei Fragen weitere Auskünfte an. Nach meinem Rundgang unterhielten wir uns noch. Die eine ist Historikerin mit Schwerpunkt Nationalsozialismus, die andere macht auch Führungen am Holocaust-Mahnmal. Daß interessierte Besucher mit ihren Eindrücken und Fragen nicht alleine gelassen werden, sondern dafür hochqualifizierte Ansprechpartner haben, zeigt, wie durchdacht und ernsthaft das Projekt ist.
Die zugehörige Website verschafft einen guten Überblick von Konzept und Inhalt der Ausstellung. Sie enthält eine Liste aller porträtierten Personen mit Kurzbiografie sowie Ausschnitte aus zwei Alben als Anschauungsbeispiel. Die Texte sind übrigens durchweg sehr gut geschrieben, ich habe gern viel davon gelesen, und die Zeit verging dabei im Flug.
Ein Film zur Ausstellung wird am letzten Donnerstag des Monats (außer Juli, August und Dezember) im historischen Kinosaal des Rathauses gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos. Außerdem gibt es in unregelmäßigen Abständen Veranstaltungen und thematisch passende Kiezführungen, dazu informieren Prospekte im Rathaus.
Die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" ist gleichermaßen als Einstieg wie als Vertiefung der Beschäftigung mit jüdischem Leben vor und im Nationalsozialismus geeignet. Ich finde diesen Gedenkort rundum gelungen und werde ihn sicherlich nochmals besuchen, um weitere Alben zu studieren.[verkleinern]