Viel Grau, wenig Grün, manchmal bunt
An der mittleren der drei Neuköllner Nord-Süd-Magistralen gelegen, hat der Karl-Marx-Platz eine Schlüsselstellung im Leben der dichtbewohnten Multikulti-Nachbarschaft. Er verbindet das beschauliche Wohnviertel des Böhmischen Dorfes mit der kommerziellen Ader der Karl-Marx-Straße, und er liegt am gleichnamigen U-Bahnhof zwischen den Stationen Rathaus, dem bezirklichen Epizentrum, und Ringbahn bzw. "Neukölln", dem Knotenpunkt für den ÖPNV wie für den... weiterlesen Autoverkehr. Keine schöne, aber eine lebendige Gegend.
Vor hundert Jahren sah es hier ganz anders aus. Da hieß der Platz Hohenzollernplatz nach dem großen Reiterstandbild Kaiser Wilhelms in Uniform mit Pickelhaube. Die Straße, auf die er schaute, hieß nach Norden Berliner Straße, denn bis 1920 war Neukölln eine selbständige Stadt. Nach Süden hieß sie Bergstraße, und gegenüber war die Mühlenstraße, benannt nach den großen Müllereien aus vorindustrieller Zeit.
Nach dem Krieg verlangten die Alliierten die Tilgung von Namen mit Bezug auf das Dritte Reich und Preußen, und aus dem kaiserlichen Platz wurde nun ein proletarischer. Die angrenzende Straße wurde flugs gleichermaßen umbenannt - zur Freude der traditionell roten Arbeiterschaft Neuköllns.
An der Ecke Bergstraße/Mühlenstraße eröffnete 1919 das Musikhaus Bading, bis in die Nachkriegszeit eins der wichtigsten Geschäfte ganz Berlins für Instrumente, Noten, Schallplatten, Grammophone und Konzertkarten. Auch nach dem Niedergang der Nachbarschaft und der akustischen Musik führte die hochbetagte Tochter des Firmengründers mit ihrer Schwägerin den Laden wacker fort. In der Silvesternacht 2017/18, kurz vor dem 100. Jubiläum also, brachen Randalierer die Tür auf und warfen Feuerwerkskörper in den Laden. Fast alles verbrannte. Nicht nur materielle Werte wurden da zerstört, auch eine Institution und ein Lebenswerk.
Groß war das Entsetzen in der Bevölkerung, bang das Warten, wie es weitergehen sollte. Jahrelang waren die brettervernagelten Schaufenster und die rußgeschwärzte Fassade unter dem originalen Firmen-Signet ein Mahnmal für das notorisch gewalttätige, gefährliche Neukölln. Erst 2023 folgte ein Musikgeschäft ganz anderer Art mit dem unscheinbaren Namen "Schneiders Laden", ein Synthesizer-Spezialist von Weltruf.
Der Platz ist umgeben von der Neuköllner Mischung: Handys, Billigklamotten und Haushaltsramsch, Fastfoodbuden, Aufback-Bäckerei-Cafés und Shisha-Lounges, Barbiere, Nagelstudios und Laser-Botox-Kosmetik. Nur wenige Geschäfte folgen nicht dem Motto schnell, grell und geizgeil. Zu ihnen gehört die Fleischerei "Blutwurstmanufaktur", die seit fast 30 Jahren ihre berühmte Blutwurst herstellt und in dem unscheinbaren Laden mit Stehimbiss verkauft. Gegenüber bietet seit zehn Jahren Balera italienische Fass- und Flaschenweine an. Ein weiteres Kiez-Highlight liegt ganz hinten, die winzige Verkaufsstelle der edlen Eismanufaktur "Spoonful", an heißen Tagen von weitem an der Warteschlange erkennbar.
Meistens ist der Platz ziemlich öde. Fast vollständig grau geplättelt ist er, mit ein paar kümmerlichen Bäumen an den Längsseiten des schmalen Tortenstücks und struppig wuchernden Sträuchern an der Spitze. Die Sitzbänke dort sind längst verschwunden, nur an der Hauptstraße stehen noch welche zwischen Abgaschwaden und Frittierfettdünsten. Dahinter tändelt die modernistische Skulpturengruppe namens "Imaginäres Theater" verloren an einem versiegten Brunnenbecken. Nur mittwochs und samstags zu Marktzeiten erwacht der Platz zum Leben.
Seit 2019 will der Bezirk den Karl-Marx-Platz sanieren, die Bürgerbeteiligung ist abgeschlossen, und knapp 2 Mio. Euro stehen bereit. Dieses Jahr sollen die Arbeiten nicht nur beginnen, sondern sogar abgeschlossen werden. Noch tut sich nichts. Da kiekste, wa.[verkleinern]
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